Zur Einzelausstellung „all in one“ von Susanne Müller-Kölmel im Kunstmuseum Solingen, 2020 verfasste Dr. Uta D. Rose, freie Philosophin, den folgenden Text.
Die Gegenwart der Vergangenheit – Das Memorial Book Projekt von Susanne Müller-Kölmel
Alles beginnt mit einem Versprechen. Ein Versprechen, das sich die Künstlerin Susanne Müller-Kölmel selber gibt, als sie ihr Memorial-Book-Projekt konzipiert, das am 1.1.2010 seinen Anfang nimmt. Angelegt auf 10 Jahre soll täglich ein Einzelbild auf einem gefalteten Leporello mit 365 Seiten gestaltet werden, bis nach Abschluss des Projekts, wenn 10 Memorial Books wieder entfaltet werden, ein Jahrzehnt aus dem Leben der Künstlerin zur Erscheinung kommt. Und zu jedem Jahresanfang wird das Versprechen wie ein Ritual erneuert.
Dieses Vorhaben, das die Künstlerin ab dem 1.1.2010 vor-sich-hatte, liegt nun hinter ihr. Auseinandergefaltet zu einer Fläche von fast 5 x 5 Metern, im Block angeordnet, ist es im Kunstmuseum Solingen anlässlich ihrer Einzelausstellung, die parallel zur Jahresschau der Solinger Künstler stattfindet, zu sehen.
Was bilden die Tageswerke ab? Was zeigt sich dem Betrachter? Was offenbart sich der Künstlerin selbst? Warum Versprechen? Wie sind Versprechen und Kunstwerk zusammenzudenken?
Um dem nachzuspüren gehen wir zurück zum Anfang, und vom Äußeren ins Innere.
Der Anfang ist ein 45 cm breiter und 438 cm langer Papierstreifen, der zu einem Leporello mit 365 Seiten gefaltet wird. Die Faltarbeit markiert den Anfang eines neuen Memorial Books. Die spezielle Falttechnik gibt für jeden Tag eine Einzelfläche frei, die von Susanne Müller-Kölmel künstlerisch gestaltet wird. Jedes Tagesbild berührt einen Punkt im eigenen Leben, der festgehalten wird und erinnert werden kann. Festgehalten wird ein Moment aus dem gesamten Leben der Künstlerin. Und das bedeutet, Impulse aus allen ihren Lebensbereichen entfalten ihre Wirkung im Bewusstsein und inspirieren das Thema des Tages – mal ist der Impuls die Malerei, mal die Art zu arbeiten, das Denken und Fühlen, Elemente des Yoga, die Familie – was sich jetzt gerade als wichtig erweist. Ebenso wichtig ist der Künstlerin etwas, das sie zur Ausführung drängt, und das ist die Suche nach einem äußeren und/oder einem inneren Ort im Leben, nach einem Platz, wo man sich niederlassen kann, eine Suche nach Halt. Die Tagesbilder sind je ein solcher Halt und die Suche ist dokumentiert in der Fülle der Punkte.
So entstehen Skizzen, die persönliche Gedanken oder Sichtweisen darstellen, Experimente mit Farben und Formen, Detailzeichnungen aus gezoomter Objekterforschung, die ein Betrachter nicht deuten, ihn aber anregen kann, Familienfeiern, Alltägliches und Persönliches. Zu Beginn des Jahres wird es eingepackt und mit einer Kordel gebunden, es entsteht ein dreidimensionaler Buchblock in handlichem Format. Am Ende eines Jahres wird nun ein Jahr wieder ausgepackt und entfaltet, und dem Betrachtenden zeigt sich eine überwältigende Fülle objektivierter Gedanken und Erlebnisse in der Vielfalt von Formen und Farben. Alle 365 Einzelflächen erscheinen gleichzeitig und zusammenhängend.
Mag das auf den ersten Blick die Wahrnehmung überfordern, hilft bei einem zweiten Blick die Anziehungskraft eines Details, sich vom Jahresüberblick zu lösen und näherzutreten. Unversehens meldet sich im Wahrnehmenden Neugier auf weitere Details, bis ein Schritt zurück den Blick auf das fließende Jahr oder auf das ganze Jahrzehnt wieder freigibt.
Es ist dieser Wechsel von Nähe und Ferne, von Detail und Überblick, der von der Betrachterseite unwillkürlich vollzogen wird, der aber auch eine Schaffensweise der Künstlerin spiegelt. „Ich male einen Alltagsgegenstand, z.B. einen Sessel. Ich gehe ganz nah an eine Ecke der Sitzfläche und erfasse, wie zwei Nähte des Bezugs aneinanderstoßen und die Maserung des Stoffes hervortreten lassen. Dieses Detail auf ein Bild gebannt lässt nicht mehr auf den Gegenstand schließen, zeigt aber, welcher Reichtum im genauen Hinsehen stecken kann,“ sagt Susanne Müller-Kölmel.
Das ist eine Aufforderung näherzutreten.
Im Nähertreten verweile ich bei einem Abschnitt des Memorial Books. Die gestaltete Einzelfläche ist Ausdruck des Erlebnisses, das die Künstlerin an diesem Tag festgehalten hat. „Erlebnis“ ist alles, was ich an mir und um mich herum erfahre, es wird im Erfahren ein Teil von mir. Erlebnis ist mit Bewusstsein verbunden. Im Bewusstsein nehme ich meine Erlebnisse wahr, und alle Erlebnisse sind Bewusstsein von etwas.
Im Prozess des Gestaltens erhält das Erlebnis, das in diesem Moment im Bewusstsein auftaucht, seinen unverrückbaren Ort. Zeitlich hält es sich auf zwischen dem „schon-nicht-mehr“ des Gestern und dem „noch-nicht“ des nächsten Tages in der Gegenwart des „Jetzt“ des heutigen Tages. Nach Vollendung ist dieses Jetzt vorüber und es kann nichts mehr verändert werden, es gehört der Vergangenheit an.
Trete ich ein wenig zurück, erscheinen die festgehaltenen Bewusstseinsinhalte wie aneinandergereihte Erlebnispunkte, die im Nacheinander des Betrachtens dahinströmen. Im Wechsel von Annäherung und Zurücktreten erahnt der Betrachtende im Abschreiten des Künstlertagebuchs ein Leben in seiner ganzen Fülle.
So empfindet es auch Susanne Müller-Kölmel, die in einen Dialog mit ihren Tagesbildern tritt: „Ich kann einzelne Punkte meines Lebens in meinem Memorial Book aktiv aufsuchen und mich daran erinnern, was ich zu diesem Punkt vor mir sah, erlebte oder fühlte.
Man berührt viele Punkte im Leben sowieso mehrmals, man kehrt zu ihnen zurück und jedes mal sind sie verändert. Dunkle Punkte im Leben bleiben nicht dunkel, sie erhalten in der Vergegenwärtigung sozusagen eine andere, freundlichere Farbe.“
An dieser Stelle lässt sich das eingangs erwähnte Versprechen in das Ganze des Projekts einholen.
Die Fülle des Dargestellten irritiert das Sehen, und die vielen kleinformatigen Tagesbilder verbreiten eher Unruhe und Unsicherheit. Vollziehen wir aber einen Wechsel der Wahrnehmungs- und Verstehensperspektive im Horizont eines gegebenen Versprechens, wie es sich die Künstlerin beim jährlichen Falten des Leporellos gibt, werden auch für den Betrachter die Tagesbilder zu Halte-Punkten, bei denen man verweilt, denn ein Versprechen ist ein Zeichen von Ruhe und eine Quelle des Vertrauens auf Verlässlichkeit. Ein Versprechen abzugeben ist eine erfahrbare Möglichkeit, auf uns Zukommendes verlässlich zu gestalten.
Unter dem Aspekt des Versprechens werden kleine Erlebnispunkte, die an je einem Tag für festhaltenswert erachtet wurden, zu „Inseln des Vorhersehbaren … im Meer der Ungewissheit.“ (Hannah Arendt)
Dr. Uta D. Rose, freie Philosophin, *1946 Düsseldorf – †2022 Solingen